Interview: Thiam über Anfänge beim 1. FC Köln, Rassismus & seinen Bayern-Transfer
Thiam blickt auf seine Karriere zurück: „Wir alle kannten die Horrorgeschichten über Magath“Über 15 Jahre war die Bundesliga sein zu Hause. Vom 1. FC Köln über den VfB Stuttgart und den FC Bayern bis zum VfL Wolfsburg. In über 300 Partien erlebte Pablo Thiam extrem viel. Bei .de spricht er über Muskelkater nach Trainingseinheiten mit Felix Magath, warum er für den FC Bayern ein Angebot des BVB ausschlug, rassistische Anfeindungen in den Stadien der 1990er Jahre und die eigene Zukunft nach seinem Aus als Nachwuchschef von Hertha BSC im Sommer 2023.Wenn Pablo Thiam heute an sein Profidebüt denkt, muss er schmunzeln, denn dieses feierte der damals 20 Jahre alte Nachwuchsspieler des 1.FC Köln im November 1994 nicht gegen irgendeinen Verein, sondern ausgerechnet im Derby gegen Borussia Mönchengladbach : „Das Debüt war aus verschiedensten Gründen kurios: Ich war eigentlich Angreifer und bin mit meinem Sturmkollegen Carsten Jancker aus der A-Jugend hochgerückt. Wir hatten viele Verletzte, Trainer Morten Olsen musste mich in der Abwehr aufstellen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich erst wenige Woche mit den Profis trainiert und durfte direkt 90 Minuten gegen Heiko Herrlich ran . Ich war anfangs so nervös, dass er direkt eine Riesenchance bekam, weil ich zu spät war. Zum Glück hat er knapp vorbei geköpft.“Dass heutzutage die Talente teilweise noch früher debütieren als Thiam damals, sieht der ehemalige Jugendleiter der Wolfsburger und von Hertha BSC zwiegespalten: „Es wird immer die Ausnahmetalente geben, die in der Lage sind, sich schon mit 16 oder 17 Jahren im Profifußball durchzusetzen. Aber nicht alle aus dieser Altersgruppe können körperlich und mental auf Anhieb mit den abgeklärteren Gegnern mithalten. Ich wog zu Beginn meiner ersten Profisaison 72 Kilogramm, später waren es 80 Kilo. Deshalb bin ich ein Freund davon, junge Spieler bewusst peu á peu an den Profifußball heranzuführen, um nicht eine zu große Erwartungshaltung zu schnüren.“Wenn der 310-fache Bundesliga-Spieler – damit ist er im Oberhaus Rekordprofi afrikanischer Herkunft – an seine Anfangszeit in Köln denkt, warten sofort einige Anekdoten vor seinem inneren Auge. „Früher hatten die gestandenen Profis und die Nachwuchsspieler unterschiedliche Kabinen. Als ich an meinem ersten Trainingstag aus Versehen in die falsche Kabine gegangen bin, wurde ich erstmal zurechtgewiesen. Ich weiß noch, dass ich in einer Trainingseinheit André Trulsen getunnelt habe. Das hätte ich lieber nicht machen soll. Nach seiner Revanchegrätsche bin ich erstmal meterweit geflogen“, lacht der Ex-Profi.Fußball in den 1990ern: Von Polsters Witzen und rassistischen FansVon seinen damaligen Mitspielern schwärmt Thiam bis heute, sagt er habe Glück gehabt, mit Ikonen wie Bodo Illgner, Pierre Littbarski oder Toni Polster zusammengespielt haben zu können: „Von Toni konnte ich unfassbar viel lernen, er hat mich immer angetrieben, mich immer unterstützt. Drei meiner vier FC-Tore hat er sogar aufgelegt. Er war aber auch immer für Jokes gut, mit seinem Wiener Schmäh hat er gerne quer über den Trainingsplatz gebrüllt und uns oft zum Lachen gebracht.“ 87-mal standen Polster und Thiam gemeinsam auf dem Feld, nur bei zehn Profis waren es noch mehr Spieler für den in Conakry, Guinea geborenen Ex-Profi.Aber Thiam musste aufgrund seiner Herkunft auch negative Erfahrungen machen, immer wieder war er das Ziel rassistischer Anfeindungen: „Wir Schwarzen waren damals noch eine Art Rarität. Ich erinnere mich an Auswärtspartien, da wurde ich mit Bananen beworfen, Affengesänge wurden angestimmt. Die schlimmste Situation habe ich bei einem Freundschaftsspiel erlebt: Sunday Oliseh und ich wurden konsequent beleidigt, ausgepfiffen. Der Stadionsprecher hat die Menge zusätzlich noch aufgehetzt. Ich war immer jemand, der sich verbal verteidigen konnte, aber ich habe auch Spieler erlebt, die durch diese Aussagen innerlich zerbrochen sind.“ Heute habe sich dahingehend vieles verbessert, aber „dass der Rassismus verschwinden wird, glaube ich nicht“. Thiam sieht es als Aufgabe jedes Einzelnen in „unserer Gesellschaft sich gegen Ausgrenzung stark zu machen.“Nicht nur aufgrund seiner sportlichen Fähigkeiten konnte sich Thiam beim 1. FC Köln in Szene setzen, sondern auch aufgrund seiner Willens- und Charakterstärke. Doch was bedeutet es überhaupt, Leader in einer Fußballmannschaft zu sein? „Ich wollte natürlich in erster Linie meine Leistung bringen, habe aber auch immer an meine Kollegen gedacht. Wie kann ich sie mitreißen? Wie kann ich sie in Szene setzen? Welche Extrameter muss ich gehen?“ Dabei habe Empathie eine große Rolle gespielt. „Ich wollte verstehen, was die anderen Spieler beschäftigt, wollte sie immer unterstützen. Insgesamt würde ich sagen, dass ich mir als Spieler nicht zu schade für harte Arbeit und schon ein kleiner Dreckssack war. Ich bin dahin gegangen, wo es unbequem wurde. Zum Glück gab es den VAR damals noch nicht, möglicherweise hätte ich sonst das eine oder andere unangenehme Gespräch mit den Schiedsrichtern führen müssen.“Thiam beim VfB Stuttgart: Professor Rangnick und Schleifer MagathDiese Mentalität wurde auch bei seinem nachfolgenden Verein, dem VfB Stuttgart, für den er von 1998 bis 2001 die Schuhe schnürte, gefragt. Unter dem damaligen Coach Ralf Rangnick erhielt Thiam einen komplett anderen Blick auf den Fußball und so veränderte sich auch seine Spielweise: „Damals wurde Ralf von vielen für seine Ideen belächelt. In einer Trainingseinheit hat er uns mit Gummibändern verknotet, damit wir ein besseres Verständnis für das Verrücken der Abwehrkette bekommen. Er war taktisch vielen Trainern Jahre voraus. Dass ich später überhaupt ein Angebot von Bayern München bekommen habe, habe ich seinem Training zu verdanken.“Ein anderer Trainer, den er nur kurzzeitig traf, aber dennoch nachhaltig von ihm geprägt wurde, ist Felix Magath. Nachdem der VfB mit Rangnick in den Abstiegsbereich der Bundesliga rutschte, übernahm Schleifer Magath. „Jeder, wirklich jeder, hat in der Nacht vor dem ersten Training nicht geschlafen, weil wir alle die Horrorgeschichten über ihn kannten. In der ersten Teambesprechung hat er uns klargemacht, dass nur die Führungsspieler um Krasimir Balakov und Zvonimir Soldo zu ihm kommen und mit ihm sprechen dürfen. Viele sagen, seine Läufe oder sein Training waren brutal, aber die fand ich in Ordnung.“ Am schlimmsten sei das Zirkeltraining gewesen: „Am Tag danach wusste man wirklich nicht, wie man aus dem Bett kommen sollte, weil man jeden Muskel gespürt hat.“ Mit einem Augenzwinkern fügt Thiam hinzu: „Er wollte, dass die Spieler über ihre Leistungsgrenzen hinausgehen. Es gab Spieler, die waren traurig, dass Felix Magath nicht mit ihnen gesprochen hat. Ich war hingegen froh, dann wusste ich nämlich, ich habe alles richtig gemacht und muss keine Extraeinheiten schieben.“Thiam zum FC Bayern: Mehr überzeugt als Dortmunds AngebotThiam erhielt 2001 aufgrund seiner Leistungen für den VfB ein Angebot von Bayern München und folgte dem Ruf des Rekordmeisters. „Ich hatte damals auch ein konkretes Angebot von Borussia Dortmund vorliegen, aber die Professionalität und die Aura, die Uli Hoeneß, Karl-Heinz Rummenigge und Ottmar Hitzfeld ausstrahlten, haben mich überzeugt. Obwohl ich bei anderen Vereinen deutlich länger war, haben mir die Bayern zu meinem 50. Geburtstag einen Brief zukommen lassen. Der FCB ist ein absoluter Weltverein, hat seine familiäre Ader aber trotz permanentem Erfolgsdruck nie verloren“, betont Thiam. Bereits in den ersten Wochen stellte der Mittelfeldspieler fest, dass die Trainingsgestaltung und die Intensität beim Rekordmeister eine ganz andere Qualität hatten: „Die Bayern-Kader waren schon damals mit absoluten Ausnahmekönnern gespickt. Diese Qualität hat sich in jedem Training widergespielt. Wir haben unseren Fähigkeiten vertraut, späte Siege waren weniger Glück oder der so gerne kolportierte Bayern-Dusel. Ottmar Hitzfeld hat immer gesagt: ‚Wir geben nicht auf, auch nicht, wenn es in der 90. Minute noch remis steht. Wir machen den Gegner so lange müde und mürbe, bis er den Fehler macht.‘ Das ist einige Male passiert.“Aufgrund der fehlenden Perspektive in München, über die Rolle des Ergänzungsspielers kam Thiam nicht hinaus, wechselte er 2003 zum VfL Wolfsburg. Während die Wölfe heute zu den Vereinen mit den größeren Budgets in der Liga zählen, war davon zu Thiams Anfangszeit noch nicht viel zu sehen. Der Verein befand sich damals jedoch im Umbruch und VW begann, sukzessive mehr zu investieren. Bei den Wölfen kamen seine Fähigkeiten von Beginn an zum Tragen, er etablierte sich nicht nur als Stammspieler, sondern auch als Publikumsliebling und wurde später auch noch Kapitän. Insgesamt 135 Partien absolvierte Thiam für Wolfsburg, so viele wie für keinen anderen Verein.Thiam über den VfL Wolfsburg und die Traditions-Diskussion„Tatsächlich musste ich mir von vielen Freunden und ehemaligen Mitspielern anhören, was ich bei der grauen Maus möchte. Der damalige Manager Peter Pander hat mir aber ganz klar aufgezeigt, was hier in den nachfolgenden Jahren entstehen wird. Auch mit dem späteren Audi- und VW-Aufsichtsratsvorsitzenden Martin Winterkorn habe ich Gespräche geführt, was beim VfL Wolfsburg möglich sein kann. Leider wird der VfL bis heute von vielen belächelt und als Retortenverein bezeichnet, nur sollte man verstehen, dass in einer Millionenstadt wie München, Frankfurt oder Berlin eine ganz andere Fanbase entstehen kann, als in einer kleinen Stadt wie Wolfsburg“, so Thiam.Über den vieldiskutierten Begriff des Traditionsvereins sagt er: „Ja, der Fußball an sich ist ein Kulturgut und unabdingbar für die Gesellschaft, aber kein Verein, der im Profifußball unterwegs ist, ist ein reiner Traditionsverein und gemeinnützig unterwegs. Es sind alles mittelständige Wirtschaftsunternehmen. Man sieht anhand vieler Vereine, was passiert, wenn man sich nur auf alte Erfolge verlässt und sich vor der Zukunft verschließt.“Thiams Liebe für den Afrika-Cup und was die Zukunft für ihn bringtObwohl sich Thiam zum größten Teil als Deutscher fühlt, schlägt in seinem Körper auch ein afrikanisches Herz. 31 Partien absolvierte er für sein Geburtsland Guinea und er nahm mehrfach am Afrika-Cup teil. Die Faszination, die dieser Wettbewerb auf die afrikanische Bevölkerung ausübt, kann er absolut verstehen. Dagegen seien manche Aussagen aus Europa, die das Turnier eher belächeln, für ihn überheblich und verletzend: „Das Niveau hat sich in den vergangenen Jahrzehnten merklich gesteigert, deswegen finde ich es befremdlich, wenn dem Wettbewerb Stellenwert und Bedeutung abgesprochen werden. Für jeden afrikanischen Spieler ist die Teilnahme an dem Turnier eines der großen Karriere-Highlights. Die Jungs sind stolz, ihr Land vertreten zu dürfen – nicht anders als beispielsweise bei einer EM, beim Asien-Cup oder der Copa América. Wer die Chance hat, sollte sich eine Partie beim Afrika-Cup unbedingt im Stadion anschauen und die Stimmung genießen.“Und wie blickt Pablo Thiam heute auf den Fußball, was ist der nächste Schritt? „Nach meiner Tätigkeit bei Hertha BSC habe ich mich bewusst entschieden, eine Pause einzulegen und mehr Zeit mit meiner Familie und meinen Freunden zu verbringen. Während meiner Karriere als Spieler oder als Funktionär hatte ich eine solche Phase nie. So sehr ich sie genossen habe: Ich bin bereit für eine neue Aufgabe und freue mich auf eine neue Herausforderung.“Wo und wann Thiam wieder einsteigt, ist noch offen. Klar ist: Seine Hausaufgaben hat der Ex-Profi gemacht, denn auch in seiner kleinen Auszeit hat der Fußball ihn natürlich nicht losgelassen: „Ich verfolge die ersten drei Ligen, schaue mir Spiele im Stadion an und führe Gespräche mit Vereinsvertretern. Zur Netzwerkpflege gehört aber auch, dass ich mich mit internationalen Kontakten austausche, um immer top-informiert zu sein, aktuelle Entwicklungen eng zu verfolgen und ständig dazuzulernen.“Interview und Text von Henrik Stadnischenko